Electrictunes traf Killing-Joke-Sänger Jaz Coleman Anfang Oktober zum Interview. Der Bühnenexzentriker erwies sich als angenehmer und plauderhafter Gesprächspartner. Coleman erzählte über seine seltsame Kindheit, warum Paul Raven eine Zahnbürste im Hintern hatte und was er am liebsten kocht.
Bericht über das Killing-Joke-Konzert im Kölner Luxor am 2. Oktober
Jaz, erzähl uns aus Deiner Kindheit. Wie kamst Du zur Musik?
Ich wuchs auf in Cheltenham, in den Cotswolds; etwa zwei Stunden von London entfernt. Ein wundervoller Teil Englands – wellige Landschaft, Häuser aus honiggelbem Stein. Meine Kindheit verlief reichlich ungewöhnlich: Als ich vier war, mein Bruder sechs, entschieden meine Eltern, beide Lehrer, dass ich musisch und mein Bruder wissenschaftlich erzogen werden sollte. Fast so, wie eine arrangierte Hochzeit. Na ja, wir als englisch-indische Familie waren halt etwas anders.
Ich ging zwar auf eine öffentliche Schule, doch schickten mich meine Eltern zum privaten Musikunterricht. Und dabei habe ich mich ziemlich geschickt angestellt: Im Alter von Neun oder Zehn hatte ich bereits Preise auf internationalen Musikfestivals gewonnen. Morgens, bevor ich zur Schule ging, spielte ich bereits eine Stunde lang Geige und verbrachte eine Stunde mit Musiktheorie. Was das betrifft, ging es in unserer Familie sehr streng zu. Aber darüber hinaus war meine Mutter sehr locker: Mit elf hatte ich ein eigenes Apartment in unserem Haus und jede Menge Freiheiten. Als ich 15 war, lebte ich mit einem Mädchen zusammen – unter einem Dach mit meinen Eltern.
Was ist deine schönste, was deine schlechteste Kindheitserfahrung?
Ich erinnere mich gerne daran, dass wir so viel gereist sind. Toll fand ich es in Frankreich und Spanien. Wir sind viermal im Jahr von England auf den Kontinent gefahren – meine Eltern liebten das Reisen und das habe ich von ihnen geerbt. Ich habe noch nie in einem Hotel übernachtet, bevor ich zu Killing Joke kam – ich habe davor immer in einem Zelt geschlafen. Wir zelteten oft, als Lehrer hatten meine Eltern nicht viel Geld. Heute habe ich immer noch eine Leidenschaft fürs Outdoorleben. Vielleicht ist das der Grund warum ich Neuseeland so mag.
Woran ich aber keine gute Erinnerung habe, ist an den Rassismus in unserer Stadt. Ich war als Kind sehr dunkelhäutig und wurde nahezu täglich mit Gewalt konfrontiert. Aber dies hat mich sehr gut auf Killing Joke vorbereitet.
Warst Du ein artiger Schüler?
Nein, absolut nicht. Ich gehörte zu den Raufbolden, habe Dope geraucht und war faul. Einmal wurde ich im Sportunterricht mit einem Mädchen in eindeutig zweideutiger Situation erwischt und der Schule verwiesen. Ich trieb mich mit mehreren Gangs herum. Die Schule habe ich ohne Abschluss mit 15 Jahren geschmissen.
Sollten Jugendliche heute eine Kindheit haben, wie Du sie hattest?
Irgendwie schon. Denn heute gilt nur jemand etwas, der einen akademischen Abschluss hat. Deswegen glauben viele, dass sie nichts wert sind oder ihr Leben nichts taugt, weil sie die Schule ohne Abschluss verlassen. Und wir mit Killing Joke zeigen, dass so etwas vollkommener Quatsch ist: Drei von uns halten Vorträge an Unis, ich besitze einen Ehrendoktor – und das ganz ohne einen Abschluss. Jeder von uns hat Tolles erreicht, ganz und gar ohne Examen.
Was wir nicht an der Schule oder Universität lernen, bringt uns das Leben bei. Es gibt halt auch andere Wege der Bildung und Erziehung. Wenn du etwas mit Herzblut betreibst, so wie ich meine Musik, dann ist das keine Arbeit mehr, sondern Spaß. Warum einen Job haben, der einen überhaupt nicht interessiert? Dann bleib lieber im Bett. Wenn Du aber deine Leidenschaft gefunden hast, dann wird die Arbeit zum Spaß.
Kochst Du?
Ich bin ein brillanter Koch. Ich koche viel für meine Töchter.
Welches ist Dein Leibgericht?
Ich koche fast alles. Am liebsten frischen Fisch, der gerade erst gefangen wurde. Oder Gemüse, ganz frisch aus dem Garten. Und ich liebe Pasta. Hast Du jemals mit Kürbis gefüllte Ravioli gegessen? In Salbeibutter, mit viel Parmesan, schwarzem Pfeffer und gerösteten Pinienkernen. Dazu einen guten Rotwein, einen Chianti – das ist doch himmlisch.
Wie war dein erstes Konzert?
Wir sind damals, ich glaube es war 1979, als Vorband der Ruts aufgetreten. Und ich war mir nicht sicher, was mit Geordie sein würde. Denn während der Proben stand er bloß ausdruckslos herum und spielte sein Instrument. Tja, und während des Konzerts war es nicht anders: er stand bloß ausdruckslos herum und spielte sein Instrument – ohne jede Regung.
Was war eines deiner unglaublichsten Tourerlebnisse?
Wie schlimm soll es denn werden? Nun gut: Raven hasste Tourmanager. Und einem jener sandte er nach der Tour einige Fotos. Auf denen war er zu sehen, und zwar, wie er sich die Zahnbürste des Tourmanagers in den Hintern schob. Aber das ist schon lange her – jetzt sind wir gefestigte Charaktere (lacht).
Noch eine Geschichte: Wir waren auf Tour in Genf, als unser Promoter uns vor die Wahl stellte, entweder im Hotel zu übernachten oder in einem alten Bauernhof, wo uns ein Ehepaar bekochen würde. Wir entschieden uns fürs Bauernhaus, und dies erwies sich als Volltreffer. Wir hatten eine grandiose Zeit, mit Partys, Mädchen und allem Drumherum. Nach dem Ende der Tour kam ich wieder dorthin – und weißt Du was? Raven und Geordie waren auch schon da! Es endete damit, dass wir alle in die Schweiz zogen.
Wenn ich das erzähle, muss ich immer an Raven denken. Ein halbes Jahr bevor er starb (der ehemalige Killing-Joke-Bassist Paul Raven starb am 20. Oktober 2007; d. Red.) reiste er nach Südamerika. Als er nach Genf zurückkam, schien es mir, als wenn er dort endlich sein Zuhause gefunden hätte. Und das stimmt mich zufrieden – wieso, kann ich nicht genau erklären.
Hattest Du übernatürliche Erlebnisse?
Oh ja, einige. Mit 14 oder 15 widmete ich mich dem Okkultismus, um herauszufinden, was es damit auf sich hat. Ich wollte Magie sehen – und ich sah sie. Mein letztes übersinnliches Erlebnis ist noch gar nicht lange her: Ich sah ein lebloses Objekt, wie es sich vor meinen Augen bewegte. Und vor zwei Jahren sah ich erstmals in meinem Leben jemanden schweben. Von Magie bist Du ein Leben lang umgeben.
Ich weiß nicht mehr genau, wann es war, aber vor einem Killing-Joke-Konzert hielten wir ein Ritual ab. Und während unseres Auftrittes hörte plötzlich alles um uns herum auf, sich zu bewegen. Die Zeit stand förmlich still. Und das nicht nur für mich, sondern für uns vier, die wir uns in Zeitlupe auf der Bühne bewegen sahen. Dann, mit einem unglaublichen Knall, war wieder alles so wie vorher. Eine unglaubliche Erfahrung – als hätten wir unsere Körper verlassen.
Was wird aus Dir nach deinem Tode?
Um so etwas zu beantworten, muss man sich auf die Theorie paralleler Universen Hugh Everetts (amerikanischer Physiker; d. Red.) beziehen. Als ich erfuhr, dass mein Bruder, ein bekannte Physiker, an ein Leben nach dem Tod glaubt, war ich ziemlich überrascht. Für ihn, Everetts Theorie paralleler Universen vor Augen, gibt es keinen Tod. Denk nur an einen Stern, den Du am Himmel siehst: Es kann gut und gerne sein, dass er nicht mehr existiert, obwohl Du ihn siehst. Genauso gut kann es sein, dass, solltest Du heute sterben, Du in ferner Zukunft gar nicht tot bist. Wir können sowohl lebendig als auch tot zur gleichen Zeit in verschiedenen Zeitlinien sein. Und das heißt für mich, dass Raven da ist und mich anlächelt, von wo auch immer. Stell Dir mal vor, Du reist in der Zeit zurück und versenkst die verdammte Mayflower – eine tolle Idee (lacht lauthals).
Wenn Du als Tier wiedergeboren würdest, als welches?
Unbedingt als Adler! Ich bin ein Jäger (lacht).