Die Reihe “Ausgegraben” stellt Scheiben vor, die es lange nach Veröffentlichung wert sind, nicht im Plattenschrank zu verstauben, sondern noch einmal gehört zu werden. Dieses Mal: „Script of the Bridge“ von The Chameleons. Mit ihrem Debütalbum offenbaren die Musiker, warum die 80er Jahre, vor allem der Beginn dieser, zu Recht als eine Dekade musikalischer Heldentaten gelten.
Muss man nicht eine unglaublich erfolgreiche Band sein, wenn viele, viele andere Musiker einen als Vorbild sehen? Wenn die Songs, die man selbst komponiert hat, anderen erfolgreichen Bands als ganz große Inspiration dienen? Nein – muss man nicht. Man kann auch trotz des Lobes, der Wertschätzung und der Begeisterung von Fans, Musikerkollegen und Kritikern der Underdog sein, dessen Qualität sich weder in Konzerten in gefüllten Stadien, vor Zuschauermassen in großen Hallen, noch in Plattenverkäufen oder Sendezeit im TV oder Radio widerspiegelt.
Genau so geht es The Chameleons. Die Band aus Middleton, wenige Kilometer nördlich von Manchester, gehört zwar zu den musikalisch ganz großen Protagonisten des Postpunks, ist allerdings nur einem kleinen Kreise von Musikkennern und -enthusiasten gut bekannt. Wirklich erstaunlich, wenn man bedenkt, dass das Debütalbum von The Chameleons eine der bedeutendsten und einflussreichsten Veröffentlichungen zu Beginn der 80er Jahre ist. „Script of the Bridge“, erschienen im Herbst 1983, gilt als eine der wichtigsten Platten des Postpunks.
Signature-Songs eines ganzen Genres?
Gleichzeitig gehört dann wohl auch das Intro zum Opener „Don’t fall“ zu einem der wichtigsten Intros des Postpunks. Entnommen ist „In his autumn, before the winter, comes man’s last mad surge of youth. What on earth are you talking about?“ der Musicalkomödie „Erfüllte Träume“ (Two Sisters from Boston) von 1946. Und wird von Fans schon nach Sekundenbruchteilen dem ersten Song des ersten Albums der Chameleons zugeordnet. Das dann einsetzende Gitarrenriff besitzt einen ebensolchen Wiedererkennungswert. Zusammen mit Schlagzeug, der Gitarrenhookline und dem einprägsamen Refrain gilt vielen „Don’t fall“ fast schon als Signature-Song der Chameleons. Und fast schon als Signature-Song des melancholischen Indierocks und Postpunks.
Kaum weniger prägnant ist der vierte Titel des Albums: „If this is the stuff dreams are made of. No wonder I feel like I’m floating on air“; so singt Burgess in „Second Skin“. Ein Song, der durch sein sphärisches Keyboardintro und den genauso sphärischen Gitarrenläufen, durch sein bezauberndes Schlagzeugspiel und selbstverständlich durch Burgess‘ Gesang zu einem wahren Meisterwerk des melancholischen Postpunks wird. Die Melodien, die The Chameleons hier produzieren, scheinen wirklich in der Luft zu schweben.
„Die Stadionband, die nicht in Stadien spielt“
Da kaum ein weiterer Song von „Script of the Bridge“ qualitativ verliert, stellt sich stets eine Frage: Warum galten The Chameleons damals, als sie grandiose Kompositionen schufen, und auch heute immer noch als großartige Band, die jedoch stets unter dem Radar flog? Unter anderem mag dies darin begründet sein, dass die Band große Songs schreiben und spielen wollte, jedoch nicht groß herauskommen wollte. Als es einst darum ging, ob man wohl zu einem Major-Label wechseln sollte, entschied sich die Band dagegen. Man wollte eine Independent-Band sein, man wollte unabhängig bleiben. So sagte es Burgess in einem Interview.
Während viele ihrer musikalischen Zeitgenossen – zum Beispiel U2, The Cure, The Smiths, New Order, Simple Minds – die Erfolgsleiter immer weiter nach oben kletterten, in den Charts vertreten waren und immer wieder im Radio zu hören waren, blieben The Chameleons stets im Schatten all der anderen. „Die Stadionband, die nicht in Stadien spielt“, so sagte man über die Band mit den fantastischen Songs, die jedoch nur wenige zu hören bekamen. Allerdings bekamen bekannte und vielfach gewürdigte Bands jüngeren Datums The Chameleons zu hören: Wenn Musik von Interpol, Editors White Lies, The National, The Verve oder Flaming Lips erklingt, dann klingt in den Ohren vieler die Musik von The Chameleons. (Foto oben: Pressefoto; Foto unten: Helmut Löwe)
„Script of the Bridge“ von The Chameleons hat mit zwölf Songs eine Laufzeit von 57:24 Minuten. Erschienen ist das Album auf dem in London ansässigen Label Statik Records.
Anspieltipps: Don’t fall, Second Skin, Less than human, Paper Tigers
Songs:
01. Don’t fall
02. Here Today
03. Monkeyland
04. Second Skin
05. Up the down Escalator
06. Less than human
07. Pleasure and Pain
08. Thurday’s Child
09. As high as you can go
10. A Person isn’t safe anywhere these Days
11 .Paper Tigers
12. View from a Hill
Musiker:
Mark Burgess – Gesang Bass
Dave Fielding – Gitarre, Keyboard
Reg Smithies – Gitarre
John Lever – Schlagzeug (* 3. März 2017)